Die Bewahrung des Lebens selbst ist ein Gut
Judith Butler schreibt: „Sigmund Freud wendet sich in seinen Überlegungen zur Kriegsverhütung schließlich Gedanken zu, die er in seinen Überlegungen zur Massenpsychologie noch nicht verfolgt hatte: dem Widerstand gegen nationalistische Euphorie und der „organischen“ Grundlage unserer menschlichen Natur.“ Und er kommt zum Schluss, dass die Kriegsneigung nur zweierlei entgegengesetzt werden kann: die Mobilisierung des „Eros als Gegenspieler“ und die Herstellung von Gefühlsbindungen durch Identifizierung. Eine Weiterentwicklung der Masse, so spekuliert Sigmund Freud zu diesem Zweck, ist vielleicht durch Erziehung und die Kultivierung von Gemeinschaftsgefühlen nicht-nationalistischer Art möglich. Ideal wäre, wenn jeder Angehörige einer Gemeinschaft Selbstbeherrschung übt, indem er einsieht, dass die Bewahrung des Lebens selbst ein Gut ist, das gemeinschaftlich gepflegt werden muss. Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.
Der Hass zerreißt gedankenlos soziale Bindungen
Sigmund Freuds Ideal einer Gemeinschaft, deren Mitglieder sich alle gleichermaßen der Selbstbeherrschung im Namen der Lebensbewahrung verpflichten, eröffnet die Möglichkeit einer Demokratisierung der kritischen Urteilskraft und des kritischen Denkens, die nicht in der extremen Selbstherabsetzung des Über-Ich zum Zweck der Erreichung einer moralischen Position gründet. Einerseits muss man sich, so Sigmund Freud, auf die Liebe konzentrieren, die soziale Bindungen schafft und aufrechterhält, und auf die Identifizierung, die Gemeinschaftsgefühl schafft und aufrechterhält.
Zudem muss man sich gegen den Hass oder Thanatos wenden, der unkontrolliert und gedankenlos soziale Bindungen zerreißt. Judith Butler erklärt: „Auf der anderen Seite betont er immer wieder, dass Liebe und Hass gleich konstitutiv für das Triebleben sind und dass sich Destruktivität nicht einfach durch Stärkung des Eros ausschalten lässt.“ Man muss nicht nur sein Leben oft in aggressiver Weise verteidigen und bewahren – das Ziel des Eros –, sondern auch mit denjenigen zusammenleben, gegen die wir intensive feindselige und mörderische Impulse hegen.
Liebe und Hass sind aneinander gebunden
In Sigmund Freuds Ausführungen zu Identifizierung und Melancholie wird deutlich, dass alle Liebesbeziehungen Ambivalenzen bergen und in die beiden gegenläufigen Richtungen Liebe und Hass drängen. „Liebe“ ist also ein Pol in der gegenläufigen Beziehung von Liebe und Hass. Judith Butler fügt hinzu: „Sie bezeichnet aber auch den Gegensatz selbst, der als emotionale Ambivalenz mit all ihrer Wechselhaftigkeit ausgelebt wird.“ Man kann sagen: „Ich liebe dich und hasse dich deshalb nicht.“
Aber man kann auch sagen, dass Liebe und Hass aneinander gebunden sind und dass man dieses Paradox meint, wenn man von „Liebe“ spricht. Judith Butler erläutert: „In der ersten Formulierung ist Liebe etwas Eindeutiges, in der zweiten entgeht sie dieser Ambivalenz nicht.“ Sigmund Freuds Sicht auf Destruktivität und Krieg scheint zwei Folgerungen zu öffnen, die aber beide nicht weiterverfolgt werden. Sigmund Freud schreibt in einem Brief an Albert Einstein: „Ich glaube, der Hauptgrund, weshalb wir uns gegen den Krieg empören, ist, dass wir nicht anders können. Wir sind Pazifisten, weil wir es aus organischen Gründen sein müssen.“ Quelle: „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ von Judith Butler
Von Hans Klumbies